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„Eigentlich hatte ich gar keinen Bock“ - Keith Gray über seinen BBL-Rekord von 65 Punkten

Es ist der 22. März 1989. Der letzte Spieltag der Saison. In der Abstiegsrunde fährt der TSV Hagen 1860 einen 142:84-Heimsieg gegen die SG Braunschweig ein.

1989

Es ist der 22. März 1989. Der letzte Spieltag der Saison. In der Abstiegsrunde fährt der TSV Hagen 1860 einen 142:84-Heimsieg gegen die SG Braunschweig ein. Dabei legt Hagens Combo-Guard Keith Gray 65 Punkte auf. In 50 Jahren Bundesliga erzielt kein Spieler mehr Punkte in einer Partie. Gut 26 Jahre später erinnert sich der damals 26 Jahre alte Gray noch mal an sein Rekordspiel.

Es soll ja diese Tage geben, an denen man schon beim Aufstehen fühlt: Heute passiert etwas Besonderes. Das war bei mir damals definitiv nicht der Fall. Um ehrlich zu sein: Eigentlich hatte ich gar keinen Bock. Das letzte Spiel der Saison, Braunschweig war bereits abgestiegen, wir waren sicher und es war auch klar, dass ich Topscorer der Bundesliga-Saison werden würde. Klang nach einer ziemlich unnötigen Partie? In der Woche vor dem Spiel ging ich sogar zu unserem Coach und fragte, ob ich nicht früher zurück in die USA fliegen könnte. Ich sah mich schon im Flieger, voller Freude darauf, meine Familie wiederzusehen. Aber Günter Pollex schüttelte den Kopf, also blieb ich und spielte gegen Braunschweig.

Wir gingen ohne großartige Taktik ins Spiel. Ich startete verhalten, im Kopf war ich ja schon seit zwei Tagen auf der Heimreise. Zur Halbzeit lagen wir trotzdem souverän mit 69:23 in Führung. Coach Pollex wurde in der Halbzeit unverständlicherweise trotzdem lauter: Wir würden nicht gut spielen, uns nicht richtig reinhängen. Und was mir einfiele – nur 19 Punkte in der ersten Hälfte!

Er wollte zum Saisonende halt ein richtig gutes Spiel von uns. Als versöhnlichen Abschluss fürs eigene Publikum. Also schüttelte ich das Heimweh aus meinen Gliedern und schaltete in den Wettbewerbsmodus. Ich erinnere mich, dass ich zu Beginn der zweiten Halbzeit acht, neun Würfe in Folge traf, darunter drei, vier Dreier und auch wilde Dinger. Der Korb war auf einmal ziemlich groß. Jeder kennt ja solche Tage: ein bisschen wie vom Schiff Steine ins Meer schmeißen.

Die Braunschweiger fingen an, meinen Verteidiger zu wechseln. Selbst Lothar Stein, Spielertrainer des Teams, probierte sich. Und natürlich sein Bruder Harald. Der war vor der Saison bei uns in Hagen zum Probetraining gewesen, wir wollten ihn gerne verpflichten, aber als Braunschweig im Sommer die Chance hatte, neben uns als Tabellenführer als Sechster der zweiten Liga nachzurücken, blieb er doch bei seinem Heimatklub. Ich weiß noch, dass Harald in der Korbschützenliste hinter mir an zweiter Stelle stand, aber dass er an dem Tag auch 35 Punkte machte und Braunschweig am Ende mit null Siegen und 28 Niederlagen wieder abstieg, hätte ich heute nicht mehr gewusst.

Am Ende seiner Karriere spielte Keith Gray von 1998–2002 in Trier.
Boxscore von Keith Grays Rekordspiel
Jedenfalls traf ich weiter, egal gegen welchen Verteidiger, und meine Mitspieler fütterten mich, ließen das Spiel nur noch über mich laufen. Die Partie war eh entschieden und die Zuschauer wollten mich weiter werfen sehen. Nach einem Korbleger rund zwei Minuten vor Schluss packte mich einer meiner Mitspieler an der Schulter: „Keith – 65 Punkte. Du. Jetzt gerade.“ Dabei blieb es dann.

Die Zuschauer applaudierten nach der Sirene und viele gratulierten mir, aber es war nicht die große Nummer, die man aus heutiger Sicht vielleicht erwarten würde. Es gab keine Fernsehkameras, ich kriegte nicht feierlich den Ball überreicht und die Fans stürmten nicht das Feld – es waren ja auch nur rund 300 Zuschauer in der Halle. Und ganz ehrlich: Dass ich mit den 65 Punkten den Bundesligarekord gebrochen hatte, wusste ich nicht.

Das kam erst in den Tagen danach raus. Internet gab es halt nicht, auch keine Handys und damit auch keine Tweets oder Facebookposts direkt aus der Halle. Ich habe gehört, dass selbst in der nächsten Basketball-Zeitung, die immer dienstags mit den Boxscores rauskam, noch nicht von einem neuen Bundesligarekord die Rede war.

Zurück in den USA, wusste niemand etwas von meinem Rekord. Also berichtete ich schon mit einer gehörigen Portion Stolz von meinen 65 Punkten in einem Spiel. Aber Beweise? Hatte ich damals nicht, habe ich heute nicht. Bis heute habe ich kein Video von dem Spiel, keinen Zeitungsartikel, nicht mal den Boxscore oder eine Kopie des Spielberichtsbogens. Ich habe gehört, dass die Braunschweiger damals immer eine Scouting-Kamera haben mitlaufen lassen. Vielleicht können Lothar und Harald ja mal nachschauen, ob es die Videokassette noch gibt. Das würde ich der Familie schon gerne mal zeigen: „Schaut mal, Kinder, da war ich noch jung, und: Ja, so habe ich in der Regel immer gespielt.“ Kleiner Scherz, aber alleine schon die Tatsache, dass jetzt in diesem Buch zum 50-jährigen Jubiläum der Liga über meine 65 Punkte berichtet wird, freut mich sehr. Denn ansonsten ist mir bis heute bezüglich dieses Spiels nur eins geblieben: die Gewissheit, dass es sie gibt, diese Tage, an denen man ins Bett geht und weiß: Heute ist etwas Besonderes passiert!