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Ein leiser Großer: Henning Harnisch erinnert an Chris Welp

Chris Welp wurde sechs Mal Deutscher Meister, spielte in der NBA, war der erste deutsche Spieler, der die Europaliga gewann, und warf Deutschland zum EM-Gold.

1987

Chris Welp wurde sechs Mal Deutscher Meister, spielte in der NBA, war der erste deutsche Spieler, der die Europaliga gewann, und warf Deutschland zum EM-Gold. Trotzdem wusste die deutsche Basketball-Gemeinde nicht viel über ihn, hielt ihn für unnahbar. Ein Nachruf von einem, der ihn anders erlebte.

In der Erinnerung läuft er immer weg. Vor uns. Vor den Fans. Vor seinem Treffer zum EM-Sieg. Oder er ist gar nicht erst da – wie 2013 beim Klassentreffen der Europameister in München, wo wir uns noch einmal die Chronologie der Ereignisse des Sommers '93 anschauten. Und wir ihn immer wieder weglaufen sahen. Wir machten da noch Witze, über sein Fernbleiben beim Treffen und sein stetes Wegrennen bei den entscheidenden Spielen, damals. Zwei Jahre später übermittelten wir uns gegenseitig die Nachricht von seinem Tod. Christian, für uns immer: Chris Welp, von norddeutscher Herkunft und nordwest-amerikanischer Prägung, ein wahrer Stoiker im Leben. Er wurde nur 51 Jahre alt.

Kennengelernt habe ich ihn 1987, als wir uns mit der Nationalmannschaft auf die EM in Athen vorbereiteten. Der Anfang einer gemeinsamen Zeit, Nationalmannschaft, Leverkusen, Berlin – eine Spanne von elf Sportlerjahren. Im besagten Sommer begann unser Dialog, er begann beim gemeinsamen Werfen, „Way off!“, weit daneben, war Chris' zugerufene Vorhersage, als er mir, dem 19-jährigen Rookie, den Ball zupasste. Und way off war dann meine geworfene Bestätigung, begleitet vom Lachen des Langen. Ein Jahr später fuhr ich mit Chris und seinem Pickup im Nieselregen über die nördlichen Ausfallstraßen von Seattle, wo er bei den Washington Huskies so stark aufgespielt hatte. Er wollte mir beim Autokauf helfen, beim Ankommen im College generell, er, der NBA-Rookie von den 76ers. Ich wollte in seine und natürlich Detlef Schrempfs riesige Fußstapfen treten. Hätte Detlef nicht zwei Jahre vor ihm mit Bravour das College durchlaufen und wäre nicht Detlef zwei Jahre vor ihm an Nummer acht der Draft in die NBA gewechselt, dann wäre einzig und allein er, Chris, der Pionier des deutschen Basketballs im amerikanischen Basketball gewesen.

Vier Jahre später steht da dieser große Mann bei uns in der Wilhelm-Dopatka-Halle in Leverkusen, wird von Otto Reintjes und Dirk Bauermann vor dem Training eingeführt und soll von nun an mit uns spielen. Chris? Bei uns? Als ob er im falschen Film gelandet wäre. Eine schwere Knieverletzung und Bayers Ambitionen änderten ein fast fertiges, von der NBA geschriebenes Drehbuch. Nur deshalb darf ich jetzt sagen: Fast alles, was ich im Erwachsenenbasketball erreicht habe, das habe ich mit Chris erreicht, und ganz viel davon: gerade wegen ihm.

Ein kompletter Center der alten Schule, das war Chris. Er hatte einen kräftigen, robusten Körper, der nicht überathletisch modelliert war. Wie ein schwerfälliger Pickup war er mit seinen 2,13 Metern unterwegs auf dem Spielfeld, wiewohl, sehr sparsam eingesetzt, da auch Speed in seinem Spiel war. Chris, der clevere, der smarte Spieler, wusste, was ein Rhythmuswechsel im Basketball ausmacht. Vor diesem Hintergrund ist sein voller Werkzeugkasten zu sehen, technisch fein und sauber justiert waren da: ein rechter Haken zur Mitte aus dem Lauf, Turnarounds, Postmoves, Finten links und rechts, beide Hände im Einsatz, Up-and-under – viele Waffen für seine soften Abschlüsse. Tolle Hände hatte er, und Assists verteilte er regelmäßig vom Highpost und als Trailer. Dazu diese butterweiche Hand beim Wurf. Bis zum stabilen Dreier half sie ihm und damit auch uns, seine Inside-Waffen noch gefährlicher erscheinen zu lassen. Er war der einzige weit und breit, der den Jack Sikma drauf hatte, diesen speziellen Wurf, bei dem der Ball wie beim Fußballeinwurf von weit hinter dem Kopf geworfen wird. Ein solider Rebounder war er außerdem, tippte sich mit Finesse den Ball am Brett gleich mehrfach zu. Und Dunkings? So ökonomisch eingesetzt wie so vieles aus seinem Programm. Aber wenn er mal oben war …

Dabei war Chris nie ein Trainingsweltmeister. Er spulte einfach immer sein Programm ab, und das änderte sich nie. Anders gesagt: Dass er stetig an seinem Spiel gearbeitet hätte, daran kann ich mich nicht erinnern. Woher hatte er das alles? Hatte er das in die Wiege gelegt bekommen?

Und Chris, der Mensch? Im Prinzip war da immer das Gefühl, als warte er die ganze Saison darauf, endlich wieder nach Seattle fliegen zu dürfen und dort einfach in der Weite dieses Landes zu sein. Als ob er hier acht Monate auf einer Ölplattform arbeitete, aber dabei immer das Flanellhemd trug, welches an die Wunschheimat erinnerte. Das versuchte er zumindest seiner Umwelt zu vermitteln. Stopp. Denn in Wahrheit war er eben doch durch und durch bei uns und mit uns. Ein echter Wettkämpfer, groß in großen Spielen, dabei das ganze Jahr durch immer zuverlässig und immer bereit (oftmals auch unter Schmerzen); ein Mann der Umkleide, trocken-lustig, herzlich lachend; und ab und an auch ein Mann für die Kneipe (dann unbedingt mit Kautabak!). Das war er, wenn er, wie die Politiker sagen, „unter uns“ war. Und da draußen? Da baute er, wie so viele lange Basketballer, einen Schutzschild um sich herum. Auch das werde ich nie vergessen, wie er dem Fotografen, damals in diesem Sommer in Griechenland, auf der Tribüne trocken und eindeutig sagte: „No picture!“ Ohne „please“. Wer aber seine Tests – way off! – bestand, wer sich von seinen Witzen nicht dauerhaft foppen ließ, wer für ihn okay war, der konnte auf ihn zählen, als Dialogpartner, als Kumpel, als Freund.

Es gibt ein Foto von uns beiden, da feiern wir 1998 die zweite Berliner Meisterschaft, unsere letzte von sechs gemeinsamen. Noch heute habe ich dieses Foto vor Augen, sehe uns beide lachen. Und ich sehe ihn in München, vor dem Freiwurf gegen Russland im Endspiel 1993. Ich sehe ihn, wie er sich konzentriert. Ich sehe ihn, wie er trifft. Und ich sehe ihn, wie er läuft. Das, und vieles mehr, das sehe ich, wenn ich ihn vor mir sehe – und das bleibt.